Initiativen für einen selektionsfreien Übertritt in die Sekundarstufe I sind nicht zustande gekommen

Der Verein Volksschule ohne Selektion (VSoS) hat sein ambitioniertes Ziel, genügend Unterschriften für die beiden Initiativen „für einen selektionsfreien Übertritt in die Sekundarstufe I“ in den Kantonen Bern und Zürich zu sammeln, leider nicht erreicht. Die schulische Selektion bleibt damit einstweilen bestehen. Dieser Mechanismus, ursprünglich zur Erhaltung gesellschaftlicher Unterschiede im 19. Jahrhundert eingeführt, verhindert bis heute eine echte Chancengerechtigkeit.

Zu grosse Aufgabe für einen kleinen Verein

Die Initiativen wurden von vielen Seiten wohlwollend unterstützt, doch für unseren kleinen Verein mit 160 Mitgliedern war das Vorhaben schlicht zu Gross. Das Sammeln der Unterschriften findet vorwiegend auf der Strasse statt – dazu fehlten dem Verein genügend aktive Mitglieder. Allen, die mit ihrer Unterschrift oder beim Sammeln geholfen haben, gebührt an dieser Stelle ein grosses Dankeschön!

Rückmeldungen aus der Bevölkerung

Die Rückmeldungen während der Sammlung waren aufschlussreich: Viele Menschen waren bereit, zu unterschreiben, und berichteten von eigenen negativen Erfahrungen mit der schulischen Selektion. Besonders im Kanton Zürich war der Leidensdruck spürbar höher – hier gestaltete sich das Sammeln einfacher als in Bern. Im Kanton Bern überwog hingegen die Überzeugung, die Vielfalt an Oberstufenmodellen habe das Problem gelöst. Dabei wird oft ausgeblendet, dass die gesetzliche Etikettierung „Schülerin/Schüler mit Grundanforderungen“ sowie deren negative Folgen weiterhin vorgeschrieben sind. Auch die Durchlässigkeit wird stark überschätzt. Nur gerade 2% der Schüler:innen mit Grundansprüchen besuchen eine allgemeinbildende Ausbildung (Fachmittelschule oder Gymnasium), die den direkten Zugang zu Fachhochschulen oder Hochschulen ermöglicht 1.

Historische und gesellschaftliche Verankerung der Selektion

Deutlich wurde zudem, wie tief die Selektion in der Gesellschaft und auch bei vielen Lehrpersonen verankert ist. Viele Stimmberechtigte haben die Selektion selbst als selbstverständlichen Teil der obligatorischen Schulzeit erlebt. Ein Systemwechsel würde einen Bruch mit einer fast 200-jährigen Tradition bedeuten – vergleichbar mit der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts. Auch dort wurden erste Forderungen nach Gleichstellung bereits im 19. Jahrhundert laut, doch es dauerte über 100 Jahre und zahlreiche Vorstösse, bis 1971 das Frauenstimmrecht endlich eingeführt wurde 2. Heute fragt man sich, warum diese offensichtliche Reform so lange auf sich warten liess.

Wissenschaftliche Kritik – und der gesellschaftliche Umgang damit

Die Schule ist ein emotional behaftetes Thema. Veränderungen werden skeptisch betrachtet, selbst wenn die wissenschaftlichen Argumente klar auf der Hand liegen. Bereits 1995 stellte die Pädagogische Kommission der EDK fest: „Offenbar gelingt es auch in einer vierzügigen Sekundarstufe I nicht, Überschneidungen, sogar zwischen dem tiefsten und höchsten Zug, zu vermeiden. Die Tatsache der beträchtlichen Überschneidungen zeigt die Fragwürdigkeit der Trennung in Züge auf3. Spätestens damals hätte die Abschaffung der Selektion ernsthaft diskutiert werden müssen. Seither wurde die Kritik durch zahlreiche Studien – insbesondere die Längsschnittstudie TREE der Universität Bern – eindrücklich bestätigt 4.

Debatte in den Medien und Verbänden

Erfreulich war das die Initiativen für ein breites Medienecho und Diskussionen gesorgt haben. Dass sich der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) und der Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH) in Umfragen unter ihren Mitgliedern mit der Selektion vertieft befasst haben, zeigt, dass dieses Thema im Fokus der Bildungspolitik angekommen ist.

Der LCH hält in seinem neuen Positionspapier zur Selektion fest: „Untersuchungen belegen, dass nicht nur die schulischen Leistungen, sondern auch andere Faktoren wie die soziale und wirtschaftliche Situation der Familie sowie individuelle Faktoren der Schülerinnen und Schüler beeinflussen, in welches Anforderungsprofil Schülerinnen und Schüler im Zyklus 3 eingeteilt werden. Dies widerspricht dem Grundsatz der Chancengerechtigkeit, wonach allein die persönliche Leistung zählen sollte. Solche Einteilungen sind sowohl für das betroffene Individuum als auch für die gesamte Gesellschaft nachteilig.“ Weiter hält der LCH fest: „Untersuchungen zeigen, dass unpassende schulische Zuteilungen und eingeschränkte Durchlässigkeit individuelle wie auch volkswirtschaftliche Nachteile verursachen“ 5.

Reformansätze und Grenzen

Allerdings hat sich der LCH nicht durchgerungen, die Selektion grundsätzlich abzuschaffen. Vielmehr setzt er auf Reformen innerhalb des bestehenden Systems – was aus Sicht des VSoS nur beschränkte Verbesserungen ermöglicht. Modelle wie die Mosaik-Sekundarschulen 6 zeigen, dass mit kreativen Ansätzen gewisse negative Auswirkungen der Selektion abgemildert werden können, aber die grundlegenden Probleme, insbesondere die gesetzlich vorgeschriebene Etikettierung von Schüler:innen, bleiben bestehen.

Engagement für Chancengerechtigkeit bleibt

Der VSoS wird sich weiterhin für die Abschaffung der Selektion in der Volksschule engagieren und Projekte unterstützen, die die Förderung aller Kinder ins Zentrum rücken – unabhängig von Herkunft oder anderen äusseren Faktoren. Mit Interesse verfolgt der Verein daher auch den Schulversuch im Tessin, wo seit zwei Jahren ein Modell ohne Selektion erprobt wird. Die Hoffnung bleibt, dass dieses Modell eines Tages schweizweit Schule macht. Wie das Beispiel des Frauenstimmrechts zeigt, brauchen selbst offensichtliche und wissenschaftlich begründete Reformen einen langen Atem. Wir bleiben dran!

Literatur:

1 Bundesamt für Statistik, Der Übergang am Ende der obligatorischen Schule, 2016 (https://dam-api.bfs.admin.ch/hub/api/dam/assets/1520326/master)

2 „Frauenstimmrecht in der Schweiz: 100 Jahre Kampf“: © Das Schweizer Parlament: (https://www.parlament.ch/de/%C3%BCber-das-parlament/politfrauen/eroberung-der-gleichberechtigung/frauenstimmrecht)

3 Perspektiven für die Sekundarstufe I, EDK, Pädagogische Kommission Studiengruppe Gestaltung der Sekundarstufe I, Bern 1995 (https://edudoc.ch/record/24125/files/D38-d.pdf?version=1)

4 Wie das Schweizer Bildungssystem Bildungs- und Lebenschancen strukturiert. Empirische Befunde aus der Längsschnittstudie TREE; Dissertation vorgelegt von Thomas Meyer, Bern 2018 (https://edoc.unibas.ch/64085/1/Meyer_Thomas_2018_Wie_das_Schweizer_Bildungssystem_Bildungs_%26_Lebenschancen_strukturiert.pdf)

5 Positionspapier LCH „Für eine chancengerechtere Gestaltung der Selektion“ (https://www.lch.ch/fileadmin/user_upload_lch/Politik/Positionspapiere/LCH_Positionspapier_Selektion__2025_.pdf)

6 Mosaikschulen: https://www.mosaik-sekundarschulen.ch/