Stellungnahme des Vereins Volksschule ohne Selektion (VSoS) zum LCH-Positionspapier zur Selektion

Das neue Positionspapier des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) zur schulischen Selektion ist mutlos – bringt aber wichtige Aspekte in die Debatte ein.

Der Verein Volksschule ohne Selektion (VSoS) begrüsst, dass der LCH in seinem aktuellen Positionspapier den Handlungsbedarf bei der Zuteilung in den Zyklus 3 (Sekundarstufe I) anerkennt. Besonders hervorzuheben ist, dass der LCH die Problematik der aktuellen Selektion treffend feststellt:

„Untersuchungen belegen, dass nicht nur die schulischen Leistungen, sondern auch andere Faktoren wie die soziale und wirtschaftliche Situation der Familie sowie individuelle Faktoren der Schülerinnen und Schüler beeinflussen, in welches Anforderungsprofil Schülerinnen und Schüler im Zyklus 3 eingeteilt werden. Dies widerspricht dem Grundsatz der Chancengerechtigkeit, wonach allein die persönliche Leistung zählen sollte. Solche Einteilungen sind sowohl für das betroffene Individuum als auch für die gesamte Gesellschaft nachteilig.“

Weiter hält der LCH fest: „Untersuchungen zeigen, dass unpassende schulische Zuteilungen und eingeschränkte Durchlässigkeit individuelle wie auch volkswirtschaftliche Nachteile verursachen.“

Diese klare Feststellung unterstreicht, dass die bestehende Selektionspraxis nicht nur individuelle Bildungswege beeinträchtigt, sondern auch gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen hat. Sie macht deutlich, dass es dringend strukturelle Veränderungen braucht, um echte Chancengerechtigkeit im Schweizer Bildungssystem zu erreichen.

LCH erkennt Problematik – bleibt aber vage bei den Lösungen

Der LCH definiert zwei Handlungsfelder: Erstens sollen die Beurteilungen beim Übertritt in den Zyklus 3 verbessert werden. Wie dies konkret umgesetzt werden soll, bleibt allerdings offen. Zweitens fordert der LCH eine bessere Durchlässigkeit zwischen den Anforderungsprofilen, da der Bildungsbericht 2023 gezeigt hat, dass nur 3,5% der Schülerinnen und Schüler während der Sekundarstufe I das Profil wechseln – obwohl die Leistungsprofile in den verschiedenen Zügen oft stark überlappen. Die vorgeschlagenen Massnahmen auf Systemebene gehen in die richtige Richtung, doch im Schulalltag würden sie durch die Abschaffung der Selektion erheblich erleichtert.

Schädliche Etikettierung bleibt ausgeklammert

Ein zentraler Punkt bleibt im LCH-Positionspapier unerwähnt: Die negative Wirkung der Etikettierung als „Schülerin/Schüler mit Grundansprüchen“. Rund 30% der Jugendlichen werden dadurch systematisch benachteiligt – der Zugang zu weiterführenden Schulen und anspruchsvolleren Lehrstellen wird erschwert. Diese Etikettierung hat nachweislich negative Effekte auf das Selbstvertrauen und die Entwicklungsmöglichkeiten der betroffenen Schülerinnen und Schüler.

Spannungsfeld für Lehrpersonen – Ressourcenverschwendung durch Selektion

Der LCH betont, dass es innerhalb des Verbands unterschiedliche Meinungen gibt: Während Sekundarlehrpersonen meist an der Selektion festhalten, befürworten viele Primarlehrkräfte durchlässigere Modelle. Besonders für Lehrpersonen der Mittelstufe ist die Selektion mit erheblichem Aufwand verbunden: Vergleiche, Prüfungen, Elterngespräche, Rekurse und Administration binden Ressourcen, die besser in die pädagogische Arbeit investiert wären. Zudem stehen Lehrpersonen im ständigen Spannungsfeld zwischen fördern und selektieren.

Erfolgreiche selektionsfreie Modelle – Initiativen für einen Systemwechsel

Viele Schulen arbeiten bereits heute erfolgreich mit selektionsfreien Modellen. Trotzdem bleibt die gesetzlich vorgeschriebene Etikettierung bestehen. Hier setzen die kantonalen Initiativen für einen selektionsfreien Übertritt in die Sekundarstufe I an: Sie fordern die Abschaffung dieser schädlichen Etikettierung.

Historische Perspektive und gesellschaftliche Verantwortung

Die schulische Selektion wurde im 19. Jahrhundert nicht zur Förderung der Chancengerechtigkeit eingeführt, sondern zur Erhaltung der Ständegesellschaft. Auch der LCH hält fest, dass die aktuelle Selektion sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft nachteilig ist und volkswirtschaftliche Nachteile verursacht.

Fazit

Es ist Zeit, die Selektion im Schweizer Bildungssystem grundsätzlich zu hinterfragen und den Fokus konsequent auf die Förderung aller Kinder zu legen – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft oder anderen äusseren Faktoren. Dass sich der LCH und der VSLCH in Umfragen unter ihren Mitgliedern mit der Selektion vertieft befasst haben, zeigt, dass dieses Thema endlich im Fokus der Bildungspolitik angekommen ist. Der VSoS, dem grösstenteils Lehrpersonen und Schulleiter:innen angehören, will mit seinen Initiativen in Bern und Zürich den selektionsfreien Übertritt in die Sekundarstufe I nicht nur diskutieren, sondern konkrete Schritte in Richtung Chancengerechtigkeit tun.

Medienmitteilung des VSoS

Positionspapier des LCH zur Selektion

Homepage zu den Initiativen