„Gemeinsamkeit ist erfolgreich“

Prof. Dr. Jutta Schöler lehrte an der TU in Berlin.

Die deutsche Pädagogik-Professorin Jutta Schöler tritt vehement dafür ein, dass Kinder miteinander unterrichtet werden, damit sie später „selbstbewusst und sicher in dieser Gesellschaft miteinander leben können“. Ein Auszug des Gesprächs mit Jutta Schöler erscheint im neusten VSoS-Newsletter.

 

 


Weshalb sollen alle Kinder, so auch Kinder mit einer Behinderung, in Regelklassen unterrichtet werden?
Jutta Schöler: Kinder sind an erster Stelle Kinder. Kinder von anderen Kindern zu trennen, empfinden sie selbst als die grösste Strafe. Eine Behinderung, die als Grund genannt wird, um ein einzelnes Kind von Geschwistern und Nachbarkindern zu trennen, ist eine Zuschreibung, eine Verwaltungsentscheidung. Ein dem Kind fremder Erwachsener entscheidet: Wann wird eine Lernschwierigkeit als geistige Behinderung bezeichnet, wann eine Seh- oder Hörschwäche als Behinderung? – Meine Tochter sagte vor vielen Jahren über ein Kind, das sich im Kindergarten nur auf dem Po rutschend vorwärts bewegt hat: „Amelie ist nicht behindert, die kann nur nicht laufen.“ Damit später Erwachsene selbstbewusst und sicher in dieser Gesellschaft miteinander und mit ihren je unterschiedlichen Schwierigkeiten gemeinsam leben können, müssen sie von klein auf mit aller Selbstverständlichkeit zusammen spielen, leben und lernen.

Nicht wenige Lehrpersonen sagen: „Die Idee ist richtig. Aber die Praxis zeigt, dass es nicht geht. Wir sind überfordert.“
In vielen Ländern ist seit Jahrzehnten bewiesen: Das geht! Vor fast 40 Jahren hat Italien seine Sonderschulen nach und nach geschlossen. Seit Anfang der 80er Jahre habe ich mich während vieler Exkursionen davon überzeugen können: Gemeinsamkeit ist erfolgreich. Auch in der reichen Schweiz wird das möglich werden, wenn es gewollt ist: Die Expertinnen und Experten der jetzigen Sonderschulen, so auch die Therapeuten, müssen in die Regelschulen kommen und gemeinsam planen, unterrichten und auswerten. Lehrerinnen sind dann überfordert, wenn sie sich an den Regelschulen alleine vor der Aufgabe sehen, ein Kind mit einer Behinderung in der Gemeinschaft aller anderen Kinder zu unterrichten. Kooperationsfähigkeit und vorausschauendes Planen sind notwendig; und davon profitieren alle Lehrpersonen und Kinder. Wir reden zu viel über Strukturen, fehlende Rahmenbedingungen und Ähnliches, aber zu wenig über das, worum es geht: die Zukunft der Kinder.

Sie haben in Deutschland den Jakob-Muth-Preis für inklusive Schulen mitbegründet. Weshalb braucht es einen Schulpreis?
Für das Erreichen des Zieles „inklusive Gesellschaft“ und „inklusive Schule“ braucht es die Orientierung an guten Beispielen. Jedes gelungene Beispiel kann ein Ansporn sein für das je eigene Handeln. Ich empfehle allen Skeptikerinnen und Skeptikern, allen denjenigen, die sich selbst auf den Weg machen wollen: Schauen Sie sich die kurzen Filme des Jakob Muth Preises an (www.jakobmuthpreis.de) oder hospitieren Sie in einer dieser Schulen. Heute ist es nicht mehr notwendig, italienisch zu lernen. Auch alle skandinavischen Länder bieten viele gute Beispiele – dort reichen Englischkenntnisse aus.

Worauf kommt es an, dass Schulen inklusiver werden?
Es gibt die eine notwendige Voraussetzung: Die innere Haltung! Alle Kinder haben das Recht auf Gemeinsamkeit. Dies gilt für Kinder, die zu Behinderten erklärt wurden, aber genauso für Flüchtlingskinder, arme Kinder, die Kinder aus sozial randständigen Familien. Auch der offene Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ist eine Aufgabe inklusiver Schulen.

Was können Eltern, Lehrpersonen oder Schulleiterinnen und Schulleiter tun, dass inklusive Entwicklungen an Schulen vorankommen?
Akzeptieren: Alle Kinder gehören hierher, in unser Dorf, in das Quartier. So wie ich selbst vor 70 Jahren als Berlinerin in einem Dorf im Kanton Bern willkommen geheissen wurde. Dies war zwei Jahre nach Kriegsende keine Selbstverständlichkeit.

Was soll man nicht tun?
Bei der Beratung von Eltern die Diagnose einer Behinderung oder Lernschwierigkeit mit der Suche nach einem anderen Ort, einer anderen Schule beginnen. Oft beginnt mit der Diagnose auch die Aussonderung – und sei es auch nur in Gedanken. Stattdessen müssen die Eltern von Anfang an die Gewissheit haben: Auch dieses Kind wird denselben Kindergarten, dieselbe Schule besuchen wie die Geschwister oder die Nachbarkinder.

Sie haben viel Erfahrung mit der Integration von jungen Menschen, die eine schwere geistige Behinderung haben. Werden diese Kinder nicht doch besser in einer Sonderschule gefördert?
Soziales Lernen kann nur in der sozialen Gemeinschaft gelernt werden. Vor Jahren habe ich ein Mädchen mit einer schweren körperlichen Behinderung, ohne Lautsprache aus der Sonderschule auf Bitten der Mutter heraus in einer Regelschule begleitet. Es war zuvor in einer Gruppe von vier Kindern gefördert worden, alle ohne Lautsprache. Sie wurden faktisch im Einzelunterricht von vier Erwachsenen begleitet und als geistig behindert bezeichnet. Sie hat in der Regelschule das Schreiben mit einem Computer gelernt sowie klare Ja-/Nein-Reaktionen mit Kopfbewegung; und sie war eine beliebte Mitschülerin. Sprechen und Laufen hat sie nicht gelernt. Wer der Meinung ist, diese Kinder gehören unter andere schwer behinderte Kinder, sollte sich eine solche Einrichtung ansehen. Der damalige Schulleiter der Regelschule hatte dies getan, bevor er sich entschloss, dieses Mädchen in eine dritte Regelklasse aufzunehmen. Danach hat er mir gesagt: „Was dort dem Mädchen angeboten wird, erinnert mich an die Stille in einem Sanatorium. Das schaffen wir! An meiner Schule wird es diesem Kind besser gehen.“ Die beste Sondereinrichtung kann die nicht behinderten Kinder als Vorbild, Ansporn, Kommunikationspartner nicht ersetzen. Die behinderten Kinder bleiben ihr Leben lang von bezahlten Erwachsenen abhängig.
Und, eine andere Überlegung: Wo sollen die heutigen Jugendlichen lernen, auch mit dementen, Hilfe bedürftigen, alten Menschen umzugehen? Wo lernen sie die Geduld, das Einfühlungsvermögen und auch die Distanz, die notwendig ist für ein angenehmes Zusammenleben?

Lehrpersonen tun sich schwer mit stark herausforderndem Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen in ohnehin schon heterogenen Klassen. Was ist zu tun?
Für die Lehrerinnen und Lehrer ist herausforderndes Verhalten oft schwer zu akzeptieren, vielleicht auch deshalb, weil sie die Ursachen der seelischen Verletzungen häufig nicht kennen. Gerade diese Kinder brauchen die positiven Vorbilder der anderen Kinder. Die qualifizierte fachliche Begleitung, die derzeit in den Sonderschulen vorhanden ist, muss in die Regelschulen verlagert werden. Wenn eine Familienhilfe vorhanden ist, muss sie eng mit der Schule kooperieren. Die Mitschülerinnen und -schüler müssen gestärkt werden, damit sie das störende Verhalten eines einzelnen Kindes verstehen, sich selbst nicht anstecken lassen. Schulsozialarbeit und offene Gespräche im Kollegium, eventuell die Last der besonderen Verantwortung auf mehrere Personen verteilen, kann ein richtiger Weg sein. Es sollte auch für diese Kinder gefragt werden: „Wo sind ihre Fähigkeiten? Wo sind ihre besonderen Interessen?“ – Nicht an den Defiziten, sondern an den Fähigkeiten anknüpfend muss mit der pädagogischen Planung begonnen werden.

Das Gespräch mit Jutta Schöler führte Bruno Achermann, VSoS achermail@bluewin.ch

Prof. Dr. Jutta Schöler lehrte Erziehungswissenschaften an der Technischen Universität in Berlin. Sie ist eine ausgewiesene Fachfrau für inklusive Schulentwicklung. Als Kind war sie kurz nach dem Krieg etwa zwei Jahre in einer Pflegefamilie im Berner Umland; dort ist sie auch zur Schule gegangen. Die Berlinerin spricht perfekt berndeutsch. (Lit.: Schöler, Jutta (2016): Alle sind verschieden. Auf dem Weg zur Inklusion in der Schule. Weinheim/Basel: Beltz praxis.)